Im Kung Fu lernen wir, dass wir ab und zu auch einstecken. Sei es weil wir zu spät reagiert haben. Oder „falsch“ reagiert haben. Uns für die falsche Seite entschieden haben. Zu früh reagiert haben und das Gegenüber darum sich daran orientieren und anpassen konnte. Oder weil wir zu instabil waren. Oder, oder, oder. Die Gründe sich vielseitig und unterschiedlich.
Dur das „Einstecken“ entwickeln wir sogenannte „Nehmerqualitäten“. Natürlich geht’s ans Ego. Natürlich fliesst innerlich oder auch mal äusserlich mal eine Träne. Natürlich gibt’s mal eine blutige Lippe oder ein blaues Auge. An sich ist das nicht schlimm.
Was wir daraus lernen, ist viel wichtiger:
- Wenn wir emotional getriggert werden, sind wir aufgefordert, an unseren Themen zu arbeiten. Sei es Angst, Ausweichen-wollen, Gewinnen-wollen, Wut gegenüber Männer/Frauen, Arroganz… Auch hier: Die Themen sind sehr vielseitig. Und nur weil jemand Kung Fu praktiziert, heisst es nicht, dass er/sie diese Themen auch WIRKLICH aufgearbeitet hat.
- Wenn wir zu langsam waren, dürfen wir lernen schneller zu werden. Sei es durch Üben der speziellen Technik. Oder sei es durch Üben einer anderen Bewegungsabfolge oder ähnliches.
- Wenn wir zu schwach waren, dürfen wir uns überlegen, wie und in welchen Bereichen wir stärker werden wollen – und wann zu stark auch heisst: langsam werden. Die Balance aus Kraft und Geschwindigkeit ist im Kung Fu ist extrem wichtig
Doch Nehmerqualitäten zu haben bedeutet nicht, einfach dumpf mehr einstecken zu können. Sondern echte Nehmerqualitäten beinhalten noch einen viel wichtigeren, aber von aussen nicht sichtbaren Aspekt:
Die Fähigkeit, während du einsteckst, dich emotional, mental und physisch
- Zu sammeln
- Nach der Lösung zu suchen
- Zum Gegenangriff überzugehen
Und das kannst du nur in einem geschützten Setting lernen. Mit Menschen, denen du vertraust. Mit Menschen, die Erfahrung haben – und clevere Lösungsansätze für dich haben.
„Einfach machen“ ist für gewisse Themen gut. „Einfach machen“ ist in meinen Augen aber für die Entwicklung von Nehmer-Qualitäten nicht geeignet.
Denn wenn du Nehmerqualitäten entwickeln lassen willst, brauchen deine Schützlinge zuerst
- Den Glauben an dich, dass du weisst, was du tust
- Das Vertrauen, dass du ihnen das beibringen kannst
- Die Bereitschaft, mit dir in die Übung zu gehen
- Weil sie wissen, dass du nichts tun würdest, was sie verletzen würde
- Weil sie spüren, dass du an sie glaubst
- weil sie merken, dass du auf sie eingehst und nicht einfach nur 0815 abspulst
- Weil sie erfahren haben, dass sie durch dich besser, schneller, stärker geworden sind
Diese Punkte kannst du nicht einfordern, sondern sie werden dir geschenkt. Kein Titel, kein Diplom kann dir dieses Geschenk namens Vertrauen geben. Diplome können als Einstieg helfen, aber wenn sie spüren
- Dass du dich für besser, schlauer, intelligenter hältst
- Nicht an sie glaubst (weil sie eben nicht so schlau, erfahren, intelligent … wie du bist)
- Die Übungen selber nicht mitmachst (forderst, aber selber nicht lieferst)
- Deine Übungen keinen Effekt sofort zeigen
- Nicht offen für ihre Meinung und Feedback bist. Noch viel schlimmer: wenn du auf ihr Feedback mit: „ja aber…“, „Das verstehst du noch nicht“, „wenn du so weit bist wie ich, dann begreifst du das“ antwortest, dann zeigst du genau deine Haltung (Punkt 1).
Arroganz und Überheblichkeit ist Gift für das Vertrauen…
Echt auf Augenhöhe miteinander zu trainieren bedeutet, auch echt bei den Übungen dabei zu sein und sich auch in die körperlichen, mentalen und emotionalen Voraussetzungen hineinzuversetzen.
Ein 1.80 m Mann hat ganz andere Voraussetzungen als eine 1.60 m kleine Frau. Alleine die Grösse verändert einiges (Winkel, Gewicht, Kraft). Ein grosser Mann kann gut von oben runter drücken und braucht eher die unteren Bereiche schützen. Die kleinere Frau muss dafür weniger sein und sich permanent durch Angriffe von oben schützen.
Logisch, oder? Was mich zum Schmunzeln bringt sind die nett gemeinten Tipps von viel grösseren Männern, wie "man X oder Y tun muss" - und mir dabei einfach nur erzählen, wie SIE es machen. Da frage ich mich, ob sie sich denn auch an den gleichen Voraussetzungen stellen. Wie oft stellt sich dann der 1.80 m grosse Mann einem 2.30 m Mann? ;) Und versucht dann einen Hebel oder ähnliches? Voilà...
Aber es geht noch viel weiter. Man muss auch hinschauen, wo die Person Qualitäten hat – und die Bewegungsabläufe bzw. Techniken auch anpassen. Das verlangt aber nach Aufmerksamkeit – und kein Überstülpen deiner eigenen Konzepte.
Erst dann bist du tatsächlich fähig, die Nehmerfähigkeiten einer Person zu steigern. Es geht nicht nur um „nackte Techniken“, sondern hat auch echte Coaching-Komponenten. Du begleitest eine Person in ihrem Prozess – und führst nicht. Das muss ein Ego aber zuerst mal vertragen. ;)
Gewiss ist das manchmal schwierig auszuhalten. Ist es doch viel angenehmer, wenn du ratlos bist, dass jemand kommt und dir sagt, wie man es „richtig macht“. Die Wahrheit ist: Nur du selber weisst, wie du es richtig machen kannst. Du kannst dem Rat folgen – doch die Verantwortung liegt letzten Endes doch bei dir.
Auch die Gesellschaft entwickelt sich genau in diese Richtung. Du kannst als Instruktor die Leute begleiten, aber sie wollen am Ende die Entscheidung treffen – ob es dir gefällt oder nicht. Und sie tun es auch. Im Zeitalter von Google (die das Recherchieren so viel einfacher macht) wollen viele nicht mehr geführt werden, sondern möchten freiwillig mit jemandem mitgehen.
Und sind wir mal ehrlich: Ist es nicht das schönste Geschenk, wenn jemand freiwillig mit dir Zeit verbringt?