Heute war ein aufwühlender Morgen. Nicht nur, dass wir im Geschäft erst vor kurzem vor unserem Fenster die Erschiessung einer Frau miterleben mussten. Nein, auch heute begleitete mich die Gewalt. Sie trägt viele Gesichter.
Ein verwirrter Randständiger war im Tram und hat laut vor sich hingeflucht. An sich nichts neues in Zürich. Dieses Mal ist er aber mit einer Frau (eine normale Pendlerin) in die Haare geraten. Sie eine starke, moderne Frau. Sie hat ihm Paroli geboten – selbstbewusst, bestimmt, anständig. Doch er fühlte sich nur provoziert.
Da bin ich ruhig aufgestanden und hab mich mal einfach schweigend neben sie gestellt. Das hat die Situation schon beruhigt. Später ist ein älterer Mann eingestiegen und hat den Randständigen versehentlich angerempelt, da dieser den Weg versperrt hat. Da ist der Randständige ausgetickt und hat ihn nach hinten gerissen. Zum Glück ist ein anderer Passant aufgestanden – und konnte den anderen Passanten noch „retten“. Alle Passanten hellwach und irritiert. Der Randständige hat den helfenden Passanten zuerst mal beschimpft, der ist zum Glück ruhig geblieben.
Die Frau hat ihn anständig, aber bestimmt zurechtgewiesen. Die haben dann fast Streit bekommen und ich befürchtete schon, dass er sie schlägt, denn er war ausser sich. Ich realisierte, dass er auf einem Auge blind war. Und er hat sich darüber ausgelassen, dass er blind ist und was er schon erlebt habe. Da meinte ich leise zu ihm: „Das tut mir leid, dass dir das passiert sei. Aber die anderen haben dir nichts getan.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.
Und da wurde er ruhig. Ab diesem Moment hat er nur noch mit mir geflüstert. Ist leise geworden. Und ich habe ihn angeschaut – und war voller Mitgefühl für diese arme Seele, diesen gequälten Menschen. Ich habe ihn angenommen, wie er ist. Und er hat das gespürt. Und er wurde ganz ruhig im Ton, in der Bewegung, in der Verfassung. Ist sogar, als ich ihn darauf hinwies, zur Seite gegangen, um der Frau Platz zum Aussteigen zu machen. Er hat sich dann bei mir beklagt über sein Leben und dass er keine Kraft mehr hätte. Als er ging, wünschte er mir einen schönen Tag.
Ich empfand einfach nur Mitgefühl für diesen Mann – und für die anderen, die er beschimpft und angegriffen hatte.
Da wurde mir bewusst: Wir alle leben manchmal in unserer Realität wie der Randständige, und sehen die Realität der anderen nicht. Er war verwirrt – und so sind wir es manchmal auch. Man muss ihn nicht damit durchgehen lassen, aber manchmal hilft es, statt laut zu werden, entgegen unserem Impuls leise zu werden, Verständnis statt Widerstand zu zeigen. Denn in seiner Verzweiflung, Frust und wegen seiner eingeschränkten Sicht empfand er den Rempler als Angriff, die Zurechtweisung als Angriff. Erst mein Flüstern brachte ihn dazu zu realisieren, dass wir es nicht böse meinen mit ihm.
Wir alle verrennen uns in unserer Realität, sehen nur einen Ausschnitt dessen, was wirklich ist. Das zu erkennen, hilft vielleicht, Verständnis zu haben für die Menschen um uns herum, die ebenfalls nur einen Ausschnitt sehen.
Gedanken von Anna Morf ©
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